9 Positionen

Surviving the Fitness

reichsstraße 1
38300 wolfenbüttel
mi. bis fr. 16–18 uhr
sa. und so. 11–13 uhr


Surviving the Fitness

mit Chris Becher, Bergernissen, Matthias Conrady, Almut Elhardt, Anne Euler & Tina van de Weyer, Jens Isensee, Anneke Kleimann, Made by us und Deborah Uhde

Der Gedanke, das Entwerfen,
Die Gestalten, ihr Bezug,
Eines wird das andre schärfen,
Und am Ende sei’s genug!
Wohl erfunden, klug ersonnen,
Schön gebildet, zart vollbracht –
So von jeher hat gewonnen
Künstler kunstreich seine Macht.

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821, 2. Buch, Kap.8

 

Der Kunstbetrieb ist schnelllebig und niemals ruhend. Das Internet und die Sozialen Medien zeigen im Sekundentakt die neuesten Arbeiten weltweit und machen die Kunstwelt offen, transparent. Internationale Kunstmessen, Galerien, Museen, Kuratoren, Künstler haben immer und überall Zugriff, halten sich auf dem Laufenden und vergleichen. Die Konkurrenz ist groß. Doch wie etabliere ich mich als KünstlerIn nach der Kunstakademie? Wie grenze ich mich ab? Was macht mich einzigartig? So leicht, wie die Worte von Johann Wolfgang von Goethes klingen, so formen sich Fragen nach Strategien und Möglichkeiten.

Surviving the Fitness trägt neun Kunstpositionen zusammen deren Wunsch nach Antworten eine gemeinsame Ausstellung hervorgebracht hat. In der genauen Betrachtung der unterschiedlichen Arbeiten bilden sich Schwerpunkte und Akzente heraus. Ausgerichtet als Raumerfahrung steht die Betrachter Wahrnehmung als zentrales Motiv - Irritation und Fokussierung -. Gleichzeitig wird das alltägliche hinterfragt, auf die Spitze getrieben oder mit neuer Relevanz belegt.

COME CLOSER – der Leuchtkasten im Schaufenster des Kunstvereins Wolfenbüttel lockt die Besucher an. Plötzlich blitzt es und die zuvor dunkle Fensterfront wird hell erleuchtet, mit ihr die neugierigen Betrachter. Die Künstlerinnen Anne Euler (*1985) und Tina van de Weyer (*1985) untersuchen mit ihrer Installation "Catch – Shoot – Release #1" die Wahrnehmbarkeit der Konsumkultur und die damit einhergehende Reizüberflutung im Zuge des Alltags. Gleichzeitig verschieben sich normale Betrachterkonventionen indem der Betrachtende in den Mittelpunkt gerückt wird.

Auch Matthias Conrady (*1988) bezieht den Betrachter unmittelbar in seine Arbeit ein und hinterfragt Aspekte der Autorschaft und Originalität. "Jetzt darf sich jeder nehmen" wird zur partizipatorischen Ausstellungsinstallation, welche die Betrachter animiert ein Kunstwerk des Künstlers (Drucke, Zeichnungen und Stickereien) auf einem Schwarz-Weiß-Kopierer selbst zu reproduzieren. Wird die Kopie zum künstlerischen "Abdruck", erhält sie durch den selbstvollzogenen Prozess eine neue Wertigkeit?

Individuell schreibt sich der Betrachter in Jens Isensees (*1981) interaktiveInstallation "Gewächs" ein. Eine abstrakte Wucherung sprießt, erwächst durch die Bewegungen des Akteurs. Mit Hilfe eines Bewegungssensors dehnt sich durch die motorische Interaktion eine virtuelle Rekonstruktion des Ausstellungsraumes in der Projektion aus, um dann erneut wieder zu schrumpfen. In seiner temporären Gestalt modifiziert und beherrscht der Betrachter das diversive Spiel im virtuellen Raum.

Seit 2011 arbeiten die Künstlerinnen Alisa Berger (*1987) und Lena Ditte Nissen (*1987) als Künstlerduo bergernissen zusammen. Im Kunstverein Wolfenbüttel zeigen sie "European Sleep", eine wahrnehmungsbezogene Rauminstallation, basierend auf ihrer Werkreihe "Awakening", die Bezug auf Bill Morrisons Film "Re: Awakenings" nimmt und zudem an ihre Performance "Awakening:Future - Ritual for Freedom & Security" anknüpft. Ein Rauchmelder stößt Qualm aus. Der diffuse Rauch strömt langsam in den Raum und kanalisiert einen Zustand zwischen Alarmbereitschaft und Sicherheit. Rituelle und séanceartige Handlungen finden Einzug in bergernissen´s Performances in denen sie erforschen, wie erlebte Realität definiert wird.

Eine gelbe Skulptur, halb Kegel, halb Kugel berührt in nur einem Punkt den Boden, allen Anschein nach immer in Gefahr umzukippen und doch tut sie es nicht. Anneke Kleimanns (*1988) Skulptur "Mü" ist ein andauernder Balanceakt – zwischen Fragilität und Potentialität. Kleinmann entwickelt in ihren Skulpturen neue Formen der Wahrnehmbarkeit von Zeit und Raum. Potentielle Zeitlichkeit wird durch sie zu Realfiktionen aus denen sie subjektive Behauptungen von Vorstellungsmodellen generiert.

Chris Becher (*1990) führt in seinen Arbeiten Video, Sprache, Text und Fotografie zusammen, die gleichberechtigt nebeneinander sozialpolitische, kulturelle und ökonomische Themen aufgreifen und so Gewohnheiten und Wertungen zur Disposition stellen. "Our Daily Projections (AT)" baut auf Bechers Auseinandersetzung mit der 150-jährigen Tradition der Vermarktung von Seifen in Indien auf und thematisiert, wie sich koloniale Denkart und Stereotypisierung hierin eingeschrieben haben. Der erzählerische Strang wird durch die Vermischung von verschiedenen wiedergegebenen Geschichten irritiert und dem Realzusammenhang entzogen, Fakten und Fiktionen gehen ineinander über und die Frage der Autorschaft wird neu gestellt.

Almut Elhardt (*1977) hat sich für die Arbeit "changed condition" in die Lebensumstände eines XP (Xeroderma Pigmentosum) Patienten versetzt. Unter den Lebensbedingungen der Mondscheinkrankheit, abgeschottet vom UV-Licht der Sonne, entstanden Fotografien deren bildlicher Inhalt, reduziert auf ihren durchschnittlichen Farbwert, 3761 Farbfelder bilden. Die Leuchtarbeit gibt somit im monochromen fotografischen Bild die Lichtintensität von Elhardts Selbstversuch als Betroffene wieder. Die Arbeit "_ultraviolett" dokumentiert darüberhinaus das Summer Camp "Sundown" im Staat New York, in welchem XP Patienten aus der ganzen Welt gemeinsam ihren Sommer verbringen.

Saori Kaneko (*1976) und Richard Welz (*1989) gründeten das politisch, wissenschaftliche und medienreflexive Kunstprojekt `MADE BY US – Radioaktive Strahlung in Deutschland und Japan 2011´ anlässlich des Atomunfalls von Fukushima. Eine Lithophanie, eine reliefartige fein bearbeitete Platte aus Steinsalz in Tondo-Form, hängt mitten im Raum und zeigt den Schachtturm 403 (ein stillgelegtes Monument des Uranabbaus in Deutschland). Sie wird durch einen Schmalfilmprojektor mit Filmmaterial, welches durch Uranpecherz bestrahlt wurde, durchleuchtet. Begleitet wird die Installation "Glückauf" von einer Bilderserie mit dem Titel "Befahrung der Schachtanlage Asse II".

Den Blinden Fleck suchend, einen Gegenstand, ein Phänomen jenseits seiner logischen Normen abtastend, konstruiert Deborah Uhde (*1982) spannungsvolle Assoziationsräume. Wie stellen wir Beziehungen her, wie organisiert sich Bewusstsein? Die Arbeit "Metamorphosis I&II untersucht Wechselwirkungen der Fragmentierung von Wahrnehmungseindrücken und der Entstehung eines Gefüges. Immer wieder neu setzt der Blick des Betrachters an, unfixiert im freien Raum aus kosmischen Körpern, schwirrenden Strukturen und abstrakten Objekten. So entsteht ein Ordnungssystem, in welchem kategoriale Unterscheidungen und Raster nebeneinander existieren.

Die Ausstellung wird großzügig von der Stadt Wolfenbüttel, dem Land Niedersachsen, der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, der Braunschweigischen Sparkassenstiftung, der KHM Köln und der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel unterstützt.

Text: Leonie Runte / Abbildung: Lena Ditten Nissen

Einladungskarte (PDF)

 

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